Chancen und Möglichkeiten eines multimedialen Erinnerungsortes

Digitale Erinnerungskultur für das Saarland

Autor

Nicole Heubach, Kulturwissenschaftlerin M.A., ist Projektkoordinatorin beim Projekt "Zeitzeug:innen im Saarland".
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© Nicole Heubach | Zeitzeug:innen Im Saarland
<p>Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist eine der wichtigsten Fragen heutiger Gesellschaften.&nbsp;Doch was macht unsere kulturelle Erinnerung aus und was kann ein virtueller Erinnerungsort dazu beitragen?</p>
<p style="margin-left:11px">&bdquo;Zukunft braucht Herkunft.&ldquo; So lautet ein zentraler Satz des Philosophen Odo Marquardt. In der Erinnerungskultur manifestiert sich, was als erinnerungsw&uuml;rdig festgelegt wird und durch welche Erinnerungen, Ereignisse und Riten die Kultur einer Region oder Nation gepr&auml;gt ist. Erinnerungskulturen verweisen auf vergangene gesellschaftliche Ereignisse, denen eine f&uuml;r eine bestimmte Gesellschaft wichtige oder pr&auml;gende Bedeutung zugewiesen wird. So bezeichnet Jan Assmann Erinnerungskultur als kollektiv geteiltes Wissen &bdquo;&uuml;ber die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart st&uuml;tzt.&ldquo; Indem wir diese Erinnerung pflegen, stabilisieren wir unser Selbstbild, unsere eigene kulturelle Identit&auml;t. Die zentrale Frage laut Assmann in dieser Auseinandersetzung lautet: &bdquo;Was d&uuml;rfen wir nicht vergessen&ldquo;?<a href="#_ftn1" name="_ftnref1" title="">[1]</a>&nbsp;</p> <p style="margin-left:11px">Ein wichtiger Bestandteil des kollektiven Ged&auml;chtnisses ist das kommunikative Ged&auml;chtnis. Es ist begrenzt auf die m&uuml;ndliche &Uuml;berlieferung der vorangegangenen drei Generationen und umfasst somit einen Zeitraum von etwa 80 Jahren. Es zeichnet sich aus durch einen hohen Alltagsbezug und Gruppengebundenheit. Das kulturelle Ged&auml;chtnis ist im Gegensatz zum kommunikativen formaler und geformter und beinhaltet beispielsweise Traditionen und Erz&auml;hlungen wie Entstehungsmythen, die in feststehender Form seit Generationen schriftlich oder m&uuml;ndlich weitergegeben werden. Aktuell unterliegt die Erinnerungskultur einem bedeutsamen Wandel: Zum einem steht gerade im Bezug zur ersten H&auml;lfte des 20. Jahrhunderts der &Uuml;bergang vom kommunikativen zum kollektiven Ged&auml;chtnis unmittelbar bevor, da immer weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus erster Hand berichten k&ouml;nnen. Zum anderen ver&auml;ndert die digitale Welt die Art und Weise, wie historische Inhalte kommuniziert, Geschichte gelernt und Erinnerungskultur vermittelt wird. Es er&ouml;ffnen sich vielf&auml;ltige neue Speichermedien. Digitale Erinnerungskultur ist l&auml;ngst ein wichtiger Bestandteil der aktuellen Geschichtsbetrachtung und pr&auml;sentiert sich auf vielf&auml;ltige Weise.</p> <p style="margin-left:11px">Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang ein Ort der multimedialen Erinnerungskultur f&uuml;r das Saarland? Das Projekt &bdquo;Zeitzeugen im Saarland | Aspekte multimedialer Erinnerung&ldquo; m&ouml;chte speziell f&uuml;r das Saarland einen solchen Ort schaffen, um Erinnerungen an Ereignisse und Geschichten dieser Region zu sammeln, die so f&uuml;r folgende Generationen verf&uuml;gbar bleiben und identit&auml;tsstiftend wirken k&ouml;nnen. Ziel ist die Einrichtung eines digitalen Erinnerungsortes im Sinne Pierre Noras<a href="#_ftn2" name="_ftnref2" title="">[2]</a>, in dessen Mittelpunkt Ereignisse aus verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Bereichen stehen, die die Geschichte des Saarlandes und die kulturelle Identit&auml;t der Saarl&auml;nderInnen gepr&auml;gt haben und noch immer pr&auml;gen. Das Saarland als j&uuml;ngstes Bundesland hat eine einzigartige Entstehungsgeschichte und zeichnet sich aus als wichtiger Schauplatz z.B. der Entwicklung der deutsch-franz&ouml;sischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg sowie der Entstehung der Europ&auml;ischen Union. Hinzu kommen viele regionale Besonderheiten und pers&ouml;nliche Geschichten aufgrund dieser Besonderheiten. Das Projekt &bdquo;Zeitzeugen im Saarland&ldquo; hat die Aufgabe, diese Erinnerungen und Geschichten zu sammeln und als Teil des kommunikativen Ged&auml;chtnisses festzuhalten.</p> <p style="margin-left:11px">Die &bdquo;Oral history&ldquo;, also der Teil der Geschichtswissenschaft, der sich mit unmittelbar erlebter und m&uuml;ndlich &uuml;berlieferter Geschichte befasst, stellt hier das geeignete Instrumentarium zur Verf&uuml;gung, um diese subjektiv-individuellen und kollektiven Erinnerungen aufzuzeichnen und zu sammeln. Sie erlaubt es, Ereignisse und Erlebtes jenseits des geschichtswissenschaftlichen Kanons der Historisierung zu erinnern. So werden auch allt&auml;gliche Abl&auml;ufe, gesellschaftliche Rituale sowie kleinere Ereignisse in die geschichtswissenschaftliche Betrachtung miteinbezogen. Vergangene Ereignisse k&ouml;nnen durch Personen, die selbst daran partizipiert oder diese sogar initiiert haben, besonders gut erfahrbar gemacht und vermittelt werden. Allerdings gibt es immer weniger Zeitzeugen, die aus der bewegten Zeit der Entstehung des Saarlandes als Bundesland berichten k&ouml;nnen. Aus diesem Grund steht im Zentrum des multimedialen Erinnerungsortes auf der Online-Plattform &bdquo;zeitzeugen.saarland&ldquo;die &bdquo;Oral History&ldquo;, das m&uuml;ndliche Interview mit Zeitzeugen, um die Chance zu nutzen, diese Stimmen f&uuml;r die Nachwelt zu konservieren. Jedoch sollen nicht nur die bewegten 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts abgebildet werden, sondern dar&uuml;ber hinaus die M&ouml;glichkeit eines Online-Portals geschaffen werden, das saarl&auml;ndische Regionalgeschichte bis in die heutige Zeit erz&auml;hlt. Bei der Auswahl der Zeitzeugen wird zun&auml;chst der Fokus auf Personen aus dem &ouml;ffentlichen Leben aus verschiedenen Bereichen wie Politik, Kultur, Medien, Sport, Wirtschaft oder Wissenschaft gelegt. Zudem sollen auch Personen, die nicht im Fokus der &ouml;ffentlichen Wahrnehmung stehen, ihre pers&ouml;nlichen Geschichten und Erlebnisse erz&auml;hlen k&ouml;nnen. Diese M&ouml;glichkeit soll z.B. &uuml;ber einen &bdquo;Ort der Zeitzeugen&ldquo; generiert werden, der an zentraler Stelle in Saarbr&uuml;cken eingerichtet werden soll und allen Interessierten offensteht.</p> <p style="margin-left:11px">Bei der Arbeit mit Zeitzeugeninterviews sollte man sich dar&uuml;ber bewusst sein, dass das Erinnerte stark subjektiv ist. M&uuml;ndlich erz&auml;hlte &Uuml;berlieferungen pers&ouml;nlicher Erfahrungen sind naturgem&auml;&szlig; niemals rein faktischer Natur, sondern durch verschiedene Aspekte der pers&ouml;nlichen Entwicklung gef&auml;rbt. Auch die Qualit&auml;t des Erinnerten schwankt, da das menschliche Ged&auml;chtnis &auml;u&szlig;eren Einfl&uuml;ssen unterliegt und die Erinnerung an lange Vergangenes getr&uuml;bt sein oder auch manipuliert werden kann. Aus diesen Gr&uuml;nden wurde die Oral History von einigen Historiker:innen zun&auml;chst mit Skepsis betrachtet, doch sie hat sich in den letzten Jahren immer mehr durchsetzen k&ouml;nnen und ist heute eine akzeptierte Methode der Geschichtswissenschaft. Denn gerade die subjektive Wahrnehmung ist nicht nur Schw&auml;che, sondern hier liegt auch die St&auml;rke des Zeitzeugeninterviews, da das Erleben eines Menschen durch seine Zeit gepr&auml;gt ist und bestimmte Wahrnehmungen nur durch subjektives Erinnern dargestellt werden k&ouml;nnen.</p> <p style="margin-left:11px">In Bezug auf die Faktizit&auml;t der Interviews zeigen sich zudem die Vorteile eines multimedialen Erinnerungsortes. Dieser bietet die M&ouml;glichkeit, Zeitzeugeninterviews nicht nur zu konservieren, sondern im Interview Geh&ouml;rtes durch zus&auml;tzliche interaktive Materialien in einen thematischen oder zeitlichen Kontext einzuordnen. Dies erm&ouml;glicht eine multiperspektivische Betrachtungsweise, da ein bestimmtes Ereignis zum Beispiel von verschiedenen Erz&auml;hlenden aus unterschiedlichen Bereichen oder Bev&ouml;lkerungsgruppen anders erinnert wird, bzw. verschiedene Medien wie historische Filmaufnahmen, Presseberichte, Fotografien u.a. zur Kontextualisierung herangezogen werden k&ouml;nnen. Aleida Assmann verweist auf die wichtige Rolle von (Speicher-)Medien als Tr&auml;ger des kulturellen Ged&auml;chtnisses: &bdquo;Mit dem wandelnden Entwicklungsstand dieser Medien [wird] auch die Verfasstheit des Ged&auml;chtnisses notwendig mitver&auml;ndert.&ldquo; <a href="#_ftn3" name="_ftnref3" title="">[3]</a></p> <p>Zwar gibt es im Saarland viele kleinere Projekte von Museen und lokalen Heimatvereinen, die sich bereits mit der Sammlung von Materialien zur saarl&auml;ndischen Geschichte befassen, diese beleuchten jedoch immer nur zeitliche oder lokale Ausschnitte. Das Projekt &bdquo;Zeitzeugen im Saarland&ldquo; m&ouml;chte durch Kooperationen mit den jeweiligen Archiven, Museen und Vereinen, das bereits gesammelte vorhandene Material b&uuml;ndeln und in digitalisierter Form allen Saarl&auml;nderInnen sowie allen dar&uuml;ber hinaus Interessierten frei zug&auml;nglich auf einer Online-Plattform zur Verf&uuml;gung</p> <p>&nbsp;</p> <p><a href="#_ftnref1" name="_ftn1" title="">[1]</a> Assmann, Jan: Das kulturelle Ged&auml;chtnis, M&uuml;nchen 1997, S. 4</p> <p><a href="#_ftnref2" name="_ftn2" title="">[2]</a> Nora geht davon aus, dass sich das individuelle wie das kollektive Ged&auml;chtnis an bestimmten &bdquo;Orten&ldquo; orientieren. Er unterscheidet dabei zwischen materiellen Erinnerungsorten (historische St&auml;tten) und Erinnerungsorten im &uuml;bertragenen Sinn (z.B. B&uuml;cher, Archive, Pers&ouml;nlichkeiten, Ereignisse, Bilder oder Institutionen). Siehe hierzu: Pierre Nora (Hg.): Les lieux de m&eacute;moire. Bde 1-3. Paris 1984-1992.</p> <p><a href="#_ftnref3" name="_ftn3" title="">[3]</a> Assmann, Aleida: Erinnerungsr&auml;ume. Formen und Wandlungen des kulturellen Ged&auml;chtnisses, M&uuml;nchen 2018, S. 19</p>
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